erzaehlen.de

Mit Worten Welten erschließen


Hier folgen zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zum Thema. Wer nur konkrete Hinweise auf Angebote und Einrichtungen haben will, springe hier.


Mit dem Erzählen lernen ist das so eine Sache: denn einerseits kann es jedeR. Wir alle erwerben zusammen mit der Sprache auch Erzählkompetenz, die sich in Kindheit und Jugend entsprechend den vorgefundenen Bedingungen und Vorlieben entwickelt oder verkümmert. Grundsätzlich aber wohnt jedem Menschen das Bedürfnis inne, sich erzählend mitzuteilen, und wir alle haben mehr oder minder angemessene Fähigkeiten entwickelt, um es tagtäglich zu tun: am Arbeitsplatz, im Familien- und Freundeskreis, auf langen Reisen und kurzen Begegnungen im Supermarkt.


Andererseits kann es eben nicht jeder, wie ich (und andere KollegInnen) viel zu oft feststellen müssen, wenn sich Menschen mit der festen Überzeugung „es zu können und richtig zu machen“ auf die Bühne stellen und das Publikum nur mangels Vergleichserfahrungen oder aus Höflichkeit nicht einpackt und davon läuft.


Und auch KollegInnen, die ich aufgrund ihrer langen Berufserfahrung und der vielfältigen Auftrittsorte für professionell gehalten habe, unterlaufen immer wieder grobe Fehler, die sie als Profis eigentlich disqualifizieren. Was ist da los?


Die alltägliche Gegenwart des Erzählens im oben beschriebenen Sinne - im Unterschied zu anderen Sparten der Darstellenden Künste, denn wer von uns schmettert täglich Arien oder tanzt auf dem Weg zur Arbeit Ballett? - führt wohl dazu, dass man den Unterschied, den es bedeutet, ob man spontan einer Freundin beim Kaffee erzählt oder vor 150 wildfremde Menschen tritt, die dafür bezahlt haben, gut unterhalten zu werden, ein klein wenig vernachlässigt - und oft genug wird man darin von zweifelhaften Methoden bestätigt, die den erzählten Stoffen allein eine ausreichende Wirkkraft unterstellen.


Mein amerikanischer Kollege Doug Lipman sagt gern: „Die Leute denken, das Kerngeschäft des Geschichtenerzählers seien die Geschichten. Sie irren sich. Unser Kerngeschäft ist die Beziehung zum Publikum.“ Ich gebe ihm recht: man kann eine einfache, nicht bearbeitete, zuweilen sogar belanglose Geschichte gut erzählen, wenn die Beziehung zum Publikum stimmt. Andersrum funktioniert das nicht.


Wofür Erzählen Lernen?

Vielleicht hilft also ein Perspektivwechsel von der Frage, ob man erzählen lernen kann, zu der Frage, wofür man es lernen möchte. Denn es gibt, wie auch auf diesen Internetseiten hoffentlich ausreichend sichtbar, die unterschiedlichsten Möglichkeiten und Veranstaltungsrahmen, um das mündliche Erzählen einzusetzen, und alle stellen jeweils unterschiedliche Bedingungen an die Erzählenden.


Schauen wir uns zunächst den Bereich an, der in der kleinen Nische, die das Erzählen im öffentlichen Bewusstsein hat, noch am schärfsten wahrgenommen wird: Erzählen als Bühnenkunst, als inszenierte Situation, formal und inhaltlich dem Theater verwandt (und nicht, wie manche Leute meinen, der Literatur). Als BühnenerzählerIn brauche ich, was den performativen Bereich betrifft, größtmögliche Präsenz, Rhythmusgefühl, Improvisationsfähigkeit - und eben den intensiven Kontakt zu meinem Publikum. Inhaltlich fahre ich gut, wenn ich um narrative Strukturen und ihre Möglichkeiten weiss und über ausreichend Sachkunde für die jeweilige Geschichte verfüge.


Anders verhält es sich im Bereich des, nennen wir es „angewandten Erzählens“ in pädagogischen oder gemeinschaftsstiftenden Kontexten wie Museum, Management, Freizeit, Naturführung, Schule, Erzählcafé. Hier sind die bei der Bühnenkunst aufgezählten Fähigkeiten natürlich auch wichtig und von Nutzen, aber lange nicht im selben Maße, und es treten mindestens genauso wichtige Fähigkeiten neben sie, die der Anwendungsrahmen fordert und die dem ursprünglichen Berufsbild des Erzählenden (Museumspädagoge, Unternehmensberaterin, Erzieher, Lehrerin) zu eigen sind.


Zusammenfassend möchte ich also darauf dringen, in Zukunft bei der Frage des „Erzählen Lernens“ die Unterscheidung zu treffen, ob das Erzählen als Beruf gemeint ist oder als berufsbegleitende Fähigkeit.


Aufgrund eben dieser Unterscheidung kann ich die folgenden Empfehlungen aussprechen:


Erzählen als Beruf

Ein erster Versuch, die Ausbildung zum professionell Erzählenden auf solide Füße zu stellen, ist das Angebot  des Verbands der Erzählerinnen und Erzähler e.V. (Transparenzhinweis: der Autor dieses Artikels ist anerkannter Ausbilder dieser Erzählakademie).

Der formale Aufbau entspricht der Ausbildung zur Theaterpädagogin des BuT, d.h. es gibt eine Grundstufe mit 400 Stunden und eine Aufbaustufe, die zusätzliche 700 Stunden umfasst.

Näheres hierzu unter:

https://erzaehlerverband.org/ausbildung/


Erzählen als berufsbegleitende und -erweiternde Fortbildung

Hierfür gibt es zwei ernstzunehmende Möglichkeiten:

Zum einen den Zertifikatskurs der UdK in Berlin, näheres hierzu unter:

https://www.ziw.udk-berlin.de/?id=53&L=0&kursid=53202023_7


Zum anderen das schon lange bestehende Angebot der Akademie Remscheid mit vier Bausteinen zu je einer Woche, die über zwei Jahre hinweg angeboten werden. Ein Einstieg ist jederzeit möglich.

Informationen:

https://kulturellebildung.de/fachbereiche/literatur-sprache/


Was ist mit den anderen existierenden Angeboten?

Von den so genannten Ausbildungen (siehe zu diesem Begriff meinen bereits archivierten Artikel „Erzählausbildung - ein Hirngespinst?“) insbesondere derjenigen Vereinigungen, die ihren Schwerpunkt eher auf die Arbeit mit Märchen als Inhalt und weniger auf das Erzählen als Prozess legen, möchte ich dringend abraten.


Warum? Weil aller bisherigen Erfahrung zufolge bei diesem Ansatz das eigentliche Wesen des mündlichem Erzählens  von den Lehrenden nicht durchdrungen wurde und stattdessen unreflektiert Quellen und Methoden der Schriftlichkeit (Auswendiglernen, Lemniskate, Sprecherziehung) verwendet werden, die einerseits die oben beschriebenen Fähigkeiten, die ein Erzähler benötigt, nicht wecken oder fördern, und andererseits die Ausbildungswilligen mit Techniken konfrontieren - z.B. der Interpretation eines Textes aus fremder Feder - die sie für ein erfülltes und erfüllendes Erzählen gar nicht brauchen.


Hinzu kommt die Tendenz, schriftlichen Quellen, und hier in Deutschland vor allem den Texten der Brüder Grimm, eine Wahrhaftigkeit und Ursprünglichkeit zu zu schreiben, die es mancherorts immer noch als postuliertes oder gefühltes Sakrileg erscheinen lässt, die Texte nicht auswendig zu lernen und wortgetreu wieder zu geben. Damit aber verlassen wir endgültig die Welt des Erzählens und begeben uns in den Bereich der Rezitation.


Dieses grundsätzliche Missverständnis um Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das die Erzählenden ihrer (mündlichen) Autorenschaft beraubt, sorgt im Ergebnis für zumeist leiernd vorgetragene und nicht angemessen bearbeitete bzw. interpretierte Texte. Die Beziehung des Erzählenden zum Publikum ist unterentwickelt oder wird missionarisch mit dem Subtext ausgestaltet: „Schaut her, wie weise Märchen sind, ich kann Euch den Zugang dazu öffnen.“


Ich hoffe, dass durch qualitativ hochwertige Fort- und Ausbildung in den nächsten Jahren in einer breiteren Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür wächst, was gutes Erzählen ist und was nicht, und ich diesen Artikel zu den anderen ins Archiv legen kann.


Martin Ellrodt, Fürth, im April 2014, Update im März 2019

Kontakt: martin(rollmops)ellrodt.de

Erzählen lernen


von Martin Ellrodt