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Mit Worten Welten erschließen


Jeder Mensch ist ein Erzähler, denn: jeder Mensch erzählt. Selbst die Lalllaute des Kleinkindes sind Vorformen des Erzählens, und auch der Taubstumme erzählt. Aber dennoch: Wenn wir in einer gemütlichen Runde beisammensitzen und Erlebnisse zum besten geben, dann hört man dem einen lieber zu als dem anderen, und wir sagen zu dem, der uns in seinen Bann geschlagen hat: Das ist ein Erzähler! Intuitiv, ohne es jemals bewusst gelernt oder reflektiert zu haben, wissen wir, was gutes Erzählen ist. Der Gradmesser sind wir selbst, wir, die Zuhörer: Wenn wir das, was da vom Erzähler geschildert wird, lebendig vor uns sehen, wenn wir die Welt um uns herum vergessen, an den Lippen des Erzählers hängen und fiebern, wie die Geschichte wohl enden mag, dann genießen wir das Erzählte mehr als das Erzählen - und damit haben wir genau die Pointe erfasst, die Erzählen zu etwas Unvergleichlichem macht: Die Geschichte lebt durch den Erzähler, und gleichzeitig verschwindet er in ihr. Oder anders gesagt: Erzählen ist ein Oxymoron, ein lebendiger Widerspruch, es ist Kunst und Nicht-Kunst in einem. Erzählen an der Nahtstelle zwischen Kunst und Alltag - dazu einige Anmerkungen:


Erzählen im Alltag


Erzählen kommt aus dem Alltag. Es gehört zum selbstverständlichen Bestandteil zwischenmenschlicher Kommunikation. Im Erzählen ordnen wir Erlebtes und geben ihm einen Sinn - auch wenn wir das Mitgeteilte irritiert als "sinnlos" beiseite legen. Wir vergewissern uns unserer selbst im Strom der Zeit. Wir verlebendigen Vergangenes und distanzieren uns gleichzeitig von ihm, gewinnen so Macht über Ereignisse, die vorher Macht über uns gewonnen hatten. Wir teilen das Erlebte mit und fühlen uns damit erleichtert oder gestärkt: die anderen haben zugehört, verständnisvoll genickt, gelacht - wir fühlen uns mit dem Erlebten nicht mehr allein, sondern in einer Gemeinschaft aufgehoben.
Im Arrangement solcher Erzählsituationen darf eines nicht fehlen: das lebendige Gegenüber. Dem Stuhl, der Wand erzählen wir nur in Momenten äußerster Verzweiflung, wenn überhaupt. Wir brauchen das Du, um uns als Ich unserer selbst zu vergewissern. Wir brauchen die Augen des anderen, diese Fenster zur Seele des anderen, um erzählen, um uns mit-teilen zu können. Sobald wir spüren, dass unser Gegenüber kein Interesse an unserer Erzählung hat, gelangweilt an uns vorbeistarrt oder nervös mit der Zigarette spielt, dann sind wir blockiert - der Erzählstrom bricht ab. Da haben wir das Geheimnis des Erzählens: Das Ich spricht sich im Du aus. Erzählen ist keine Einbahnstraße. Es ist ein Dialog, der vom Erwidern, vom Anteilnehmen lebt. Erzählen ist nicht nur Reden, sondern ebenso dringlich Zuhören. Wenn wir vom Erzählen sprechen, dann sollten wir das Zuhören nicht vergessen. Zuhören als Zu-Wendung, als unabdingbare Voraussetzung und als Ziel des Erzählens.


Erzählen im Theater


Das Theater hat sich des Erzählens von jeher bedient und es gleichzeitig verfremdet: Erzählen auf der Bühne, in einer Inszenierung, als Figurenrede, ist verfremdetes Erzählen. Der Schauspieler erzählt mit fremder Zuge, nämlich mit der seiner Figur, d.h. seine Erzählung wird bestimmt durch die Absichten, die Motive, die Emotionen der Figur und damit durch die Gesamtkonzeption einer Inszenierung.

Die narrativen Anteile im Drama (Botenbericht, Mauerschau, Diegesis, Monologe) sind eingebettet in den Ablauf einer Handlung. Sie haben stets eine konkrete Funktion in deren Vollzug. Sie sind der Gesamtkomposition untergeordnet, Teile des plots.

Seit etwa 10 Jahren beginnt das Theater zunehmend, die Grenzen dieser epischen Anteile am Drama aufzulösen, Mischformen zwischen Dramatischem und Epischem zu entwickeln und im Oszillieren zwischen Realität und Fiktion, Präsenz und Repräsentation die über Jahrhunderte gültigen Grundkonstanten der Gattung über Bord zu werfen.
Im Kindertheater erlebt das Erzählen seit etwa 10 Jahren eine wahre Renaissance. Das hat finanzielle und personelle Gründe, aus deren Not eine Tugend gemacht wird: Mit dieser minimalistischen Theaterform ermöglicht es selbst kleinen Ensembles, unbegrenzt an den Stoffen der Weltliteratur und des Welt-Theaters zu partizipieren (Shakespeare, die antiken Mythen). Die große Personage und die Vielfalt der Handlungsorte dieser stofflichen Quellen sind im Erzähltheater keine Hinderungsgründe. Die Verschränkung narrativer und mimetischer Ebenen machen die Vergegenwärtigung des Vergangenen, Weit-Entfernten, des Transzendenten (in Gestalt von Allegorien) möglich.
Selbst die Tragik der großen Stoffe kann ungeschmälert, nicht reduziert zur Geltung gebracht werden. Erinnert sei an die Griechen: Morde und Gemetzel fanden hinter der Bühne statt, dennoch erhielten sie über die Narration eine unheimliche, beklemmende, wenn nicht gar schockierende Gegenwärtigkeit. Die Frage der Zumutbarkeit der geschilderten, nicht real sichtbaren Grausamkeits-Exzesse stellt sich anders als im Film oder Fernsehen: Das zur Narration verdichtete Wort trägt das Pharmakon seiner Verdaulichkeit in sich.

Für den Schauspieler bedeutet das Erzähltheater eine geradezu erupitve Erweiterung seiner mimetischen Möglichkeiten: Durch den permanenten Rollenwechsel und die damit notwendige fragmentarische Darstellung unterschiedlichster Figuren kann der Schauspieler "ungleich souveräner alle Figuren seiner Geschichte spielen" (F.K.Waechter).
Der Zuschauer erlebt die beständige Dividierung des Individuums Schauspielers, der auf seine Imaginations-, Ergänzungs- und Synthetisierungsleistungen angewiesen ist. Seine Aufmerksamkeit wird dadurch gefesselt, wie der Darsteller in einem Bruchteil von Sekunden und mit einem Minimum an schauspieltechnischem Aufwand das Oszillieren von Erzählen und Verkörpern bewerkstelligt. Sie wird gefesselt durch Ambiguitätserfahrung: Wo schlägt Ich (also Erzähler) in Nicht-Ich (also Figur) um, wo Präsenz (die Person des Darstellers ohne Verweischarakter) in Repräsentation (Erzähler und Figur spielen), wo Privates in Artifizielles, wo non-acting in acting, wo real live in fiction. Die Unvorhersehbarkeit des Umspringens erzeugt einen spezifischen Aufmerksamkeitsgrad vom Zuschauer. Er erlebt die Verwandlung zugleich intellektuell als artifiziellen und emotional respondierend als magischen Akt.


Erzählen zwischen Alltag und Kunst


Der Erzähler, der den privaten Raum oder die Rahmensetzung des Theaters verlässt, vor ein Publikum tritt und dies unterhalten will, ist ein Grenzgänger. Er bedient sich der Kunst ebenso wie der Alltagserfahrung. Er stellt damit eine Legierung her, die beiden Bereichen - dem Alltag und der Kunst - zugehörig ist.


  1. +Im Unterschied zum Schauspieler wählt sich der Erzähler seine Geschichte selbst aus - wie im Alltag, in dem wir ja auch nur das zum besten geben, was uns selbst zutiefst berührt oder zum Lachen gebracht hat. Diese individuelle Freiheit ist bestimmend für gutes Erzählen: Man kann nur erzählen, was man liebt, nein: wovon man besessen ist. Erzählen ist eine Obsession.
    Der Geschichtenerzähler lädt uns ein, seine eigene Faszination am Berichteten zu teilen, mit ihm das Unfassbare, das Lächerliche, das Abstruse zu vergegenwärtigen. Er will ein Stück seiner eigenen, persönlichen Betroffenheit, seines Schreckens, seines Staunens übertragen auf seine Zuhörer. Sein Anliegen ist es also nicht, durch seine Kunst zu brillieren, die Geschichte zur Selbstdarstellung zu missbrauchen, sondern mit den Zuhörern in Dialog zu treten.

    + Der Erzähler ist der Autor seiner Geschichte, auch wenn ihr ein fremder Text zugrunde liegt. Die Geschichte hat sich nicht nur in seinem Kopf, sondern auch in seinem Körper verwurzelt, erst so kann er frei und souverän mit ihr spielen. Im Erzählen ist er dann Regisseur, Darsteller, Dramaturg, Bühnen-, Kostüm- und Maskenbildner in einem. Er ist das Theater in seiner letztmöglichen Reduktion: In ihm ist das Theater mit seiner arbeitsteiligen Spezialisierung aufgehoben. Der Schauspieler hingegen muss für das, was er erzählt, niemals alleine gerade stehen. Regisseur, Dramaturg usw. haben ihnen Anteil an seiner Erzählung, müssen sie mit verantworten. Der Erzähler hingegen muss für das, was er erzählt, unbedingt und ohne Pardon selbst einstehen. Im Unterschied zum Schauspieler trägt der Text, den er erzählt/spricht, den Abdruck seines Ichs, seines Temperaments, seiner Imaginationen, seiner Erfahrungen. Der Text ist vom Ich des Erzählers fermentiert.

    + Damit wird Erzählen zu einer spezifischen, nämlich ästhetischen und sozialen Form der Begegnung: Der Zuhörer begegnet der Geschichte und dem Erzähler als unverwechselbarer Person. Der Erzähler kann sich hinter nichts verbergen, er offenbart sich in einer oftmals sogar beklemmenden Art und Weise. Denn: Im Unterschied zum Schauspieler hat er die Hermetik der Bühne durchbrochen. Er erzählt "auf Augenhöhe" mit dem Publikum, als primus inter pares. Nichts schützt ihn - keine 4. Wand, kein Lichtvorhang. Aber er ist nicht, wie der Schauspieler "öffentlich einsam" (Stanislavski). Sein Partner ist der Zuhörer, auf den er auf Gedeih und Verderben angewiesen ist. Erzählen lebt vom Kontakt, es braucht den imaginierenden Zuhörer, der mit dem Erzähler gemeinsam an der fiktiven Welt der Geschichte baut. Diese Welt entsteht im Dialog, auch wenn der Zuhörer dabei stumm bleibt. Hier mag auch eine der Erklärungen dafür liegen, dass in der heutigen Medienwelt das Erzählen wieder so ungemein an Popularität gewonnen hat: Die Übersättigung durch mediale Angebote erzeugt eine Art von Hunger, der auch von den raffiniertesten Konsumstrategien der Medien nicht befriedigt werden kann - den "Hunger nach Person" (H.v.Hentig). Die Sehnsucht nach dem lebendigen Gegenüber und die Sehnsucht nach den eigenen Bildern im eigenen Kopf bleibt virulent und ungestillt, auch oder gerade in der perfekten Medienwelt.

    + Der Erzähler ist kein Schauspieler, aber ein Spieler. Er stellt nicht zur Schau, aber er spielt. Er spielt mit Worten, Ereignissen, Figuren, er spielt Figuren, ohne sie zur Schau zu stellen.
    Er skizziert Figuren, deuten sie an, aber er verwandelt sich nicht in sie.

    + Vom Erzähler erwarten wir kein bühnenreifes, von den Schlacken des Alltagsidioms gereinigtes Sprechen. Die einzige Forderung, auf die nicht zu verzichten ist, ist die nach Verständlichkeit. Erzählen ist nicht Rezitation, nicht Deklamation. Es ist Versinnlichung eines Wortinventars aus der ganzen ungebremsten, spontanen Leidenschaft heraus, die durch Imagination erzeugt wird und Imagination erzeugt. Da kann sogar der Dialekt eine ungemeine Hilfe sein. Er kann befreiend, entlastend, ja beflügelnd wirken - so, als hätte die Zunge die auf ihr hockenden Polizisten verschluckt und könnte endlich frei und ungebremst den Gedankenbildern folgen.

    + Dennoch kann der Erzähler im Feld der Diktion vom Schauspieler lernen: die Gliederung eines Textes, der Umgang mit Pausen und Zäsuren, mit der Variation von Tempi, Rhythmen, Lautstärke und Satzmelodie, die Färbung der Stimme, die Gestaltung von Dialogen - das sind Techniken, die aus der Schauspielausbildung entlehnt und dem individuellen Gebrauch angepasst werden sollten. Aber jede Form von Einschüchterung durch das Vorbild der Bühne halte ich für fatal: Erzählen lebt von der Unverwechselbarkeit der Person mit ihren Ecken und Kanten, und diese zu glätten, einem verbindlichen Standard anzugleichen, das käme der Amputation eines Lebensnervs gleich. Erzählen lernen lebt von der Ermutigung, sich selbst und der Geschichte zu vertrauen, nicht von der Befolgung eines Regelwerkes. Im Erzähler die Eigenwilligkeit entdecken und diese stärken, Geburtshelfer und nicht Schleifmaschine zu sein - das ist mein Credo in der Erzählausbildung. Ich bin immer wieder überrascht, wie viel erzählerisches Potential in (fast) allen Menschen steckt, wie schön und faszinierend sie werden, wenn sie sich selbst vertrauen und aufgeregt, aber angstfrei im Strudel der Geschichte dahinsegeln.

    + Der Erzähler ist ein Mediator. Er vermittelt zwischen der Geschichte und den Zuhörern. Dafür bedarf es einer spezifischen Sensibilität, eines seismografischen Gespürs für Räume und Zuhörergruppen, ein hohes Maß an situativer Flexibilität. Die gleiche Geschichte, in einer
    Kirche oder einer Tiefgarage, vor Museumsbesuchern oder vor Strafgefangenen erzählt, wird zu einer jeweils anderen Geschichte. Die spezifische Erzählsituation (der Raum, die Beleuchtung, die Akustik, das soziale Milieu des Ortes, die Tageszeit, Anzahl, Alter, Herkunft der Zuhörer, die Ankündigung der Veranstaltung, ...) ist eine Determinationsmacht, die jedem guten Erzähler bewusst ist, mit der er spielt oder gegen die er anspielen muss. Das Dreieck Erzähler - Geschichte - Zuhörer (nach Ben Haggerty) existiert nicht in einem Vakuum. Der situative Rahmen fördert oder stört den Dialog. Der Erzähler kann ihn magisch befruchten, oder er kapituliert vor der Wucht der faktischen Gegebenheiten. Erzählen heißt dann auch, aus solchem Scheitern lernen.

  2. +Meine Arbeit in der Erzählausbildung beruht ausschließlich auf bereits vorhandenen Geschichten, die aus der oralen kommen, heute aber nur noch im Buch zu haben sind - also Mythen, Märchen, Schwänke, Legenden. Warum? Zum einen bauen sie auf einfachen, über Jahrhunderte hinweg erprobten und bewährten Schemata auf, die dramaturgisch nicht zu übertreffen sind - was u.a. die script-writer der Filmindustrie raffiniert zu nutzen wissen:

(nach Gustav Freitags Modell der klassischen Tragödie)


Geschichten, die über Jahrhunderte von Mund zu Ohr gewandert sind, oftmals über Ländergrenzen oder Kulturkreise hinweg, haben zu einer solchen Organisationsstruktur gefunden, die sich als ebenso variabel wie unzerstörbar erweist. Machen Sie die Probe aufs Exempel und untersuchen Sie ein beliebiges europäisches (!) Zaubermärchen anhand dieses Schemas, und sie werden verblüfft sein über den Befund. Dieses Schema trägt einen Spannungsbogen in sich, dem die Zuhörer über Jahrhunderte hinweg bereitwillig und oft atemlos gefolgt sind. Diese story grammar gibt dem Erzähler gleichsam die Sicherheitsgurte in die Hand, die ihn vor dem Absturz in die Langeweile bewahren.
Darüber hinaus haben diese Geschichten über den Vorgang der kommunikativen Prägung (Blumenberg) etwas aufbewahrt, was über Jahrhunderte oder über Jahrtausende den Zuhörer, später den Leser bewegt und "angeht". Blumenberg spricht von der "selektiven Leistung der Mündlichkeit" (Blumenberg, S. 169), und er gibt zu bedenken, dass die "schriftlose Vorgeschichte der Mythen und Märchen eine dichtere und intensivere Erprobung aller Gehalte auf Sicherheit der Wirkung erzwungen haben muß, als ihre ganze nachherige Geschichte im Aggregatzustand von 'Literatur' ... Die Zeit der Mündlichkeit war die Phase der ständigen und unmittelbaren Rückmeldung des Erfolgs literarischer Mittel... Nichts ist schonungsloser für einen Text als der mündliche Vortrag..." (Blumenberg, S. 168).
Es ist die Zeitlosigkeit, die historische Unbestimmtheit der Bilder und Geschehnisse, wodurch sie auch heute noch fesseln und transparent werden für individuelle und zeitgebunden-aktuelle Erfahrungen. Es wird in ihnen etwas angesprochen oder ausgesprochen, das zu den Grundkonstanten unserer Daseinserfahrung gehört, etwas "Überzufälliges", Signifikantes, Arche-Typisches, also von allem Anfang und zu jeder Zeit Gültiges. Diese Geschichten, die im intimen oder geselligen Erzählraum, später in der Literatur überdauerten, haben ein Substrat ausgebildet, das "eben so prägnant, so gültig, so verbindlich, so ergreifend in jedem Sinne [ist], dass sie ... sich immer noch als brauchbarsten Stoff für jede Suche nach elementaren Sachverhalten des menschlichen Daseins anbieten" (Blumenberg, S. 166).
Wir arbeiten in der Ausbildung an solchen Texten entweder solistisch (ein Student nimmt sich einer Geschichte an) oder kollektiv (eine Gruppe von 3 oder 5 Studenten erzählen gemeinsam eine Geschichte - einander abwechselnd, sich ins Wort fallend, Sätze oder Wendungen des anderen wiederholend und damit kommentierend, im Chor sprechend usw.) Der Text wird entweder im Wortlaut erzählt (es gibt Märchen oder Mythen, die kann man nicht besser erzählen, als sie vormals aufgeschrieben wurden), oder es wird mit ihm improvisiert, d.h. jeder hat die Freiheit, mit ihm nach eigenem gusto zu spielen.
In der textgebundenen Arbeit ist mir immer wieder bewusst geworden, dass trotz der Erstarrung der Geschichten zwischen den Buchdeckeln im Erzählen jener Keim der Mündlichkeit zum Leben erweckt werden kann, der diesen Texten immanent ist. Ovid verstand seine Texte vornehmlich als Vorlesestoffe, ebenso Basile. Grimms' und Perraults Quellen kommen zu einem Gutteil aus der Mündlichkeit. Dieses Ferment bestimmt nach wie vor ihre Eigentümlichkeit und kommt erst dann zur Geltung, wenn man ihm wieder ihr adäquates Medium, die Mündlichkeit, zurückgibt. Die Schriftlichkeit hat sie verkrustet; ihre Sinnlichkeit erfahren sie erst wieder im lebendigen Erzählen.

+ Mein Appell hier in dieser Runde: Erzählt, erzählt, erzählt die alten Geschichten, die mit Euch wieder jung werden wie am ersten Tag! Die Gewalt und die Prägnanz ihrer Bilder, die Härte und die Schonungslosigkeit ihrer existentiellen Konflikte, die Spannung und die Brisanz ihrer Handlung sind nicht zu übertreffen. Sie sind wie das Meer, das in seiner Unergründlichkeit und Tiefe nicht auszuschöpfen ist. Wenn sie durch Euch hindurchgegangen sind, dann könnt ihr sie zu neuem Leben erwecken, dann verlieren sie ihr Alter, ihre Umständlichkeit und Fremdheit, sie bekommen Glanz und Fülle, und die Zuschauer werden es euch danken: Der Schauer, den ihr ihnen über den Rücken gejagt habt, das Lachen, in das sie mit euch eingestimmt sind, die Spannung, die die Zeit stillstehen ließ - das sind magische Momente, und auch um dieser Momente willen lohnt es sich zu leben.


Kristin Wardetzky, Berlin im März 2005

Kontakt: Kristin.Wardetzky(rollmops)gmx.de

 

Erzählen: Kunst oder Nicht-Kunst?


von Kristin Wardetzky