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Mit Worten Welten erschließen


Stellen Sie sich vor: Sie haben Ihr Kind auf dem Schoß und ein Buch in der Hand, die ‚Kinder- und Hausmärchen’ der Brüder Grimm. Sie selbst sind müde, das Kind ist wach – und soll doch auch bitte müde werden. Um ehrlich zu sein – sehr viel Ausdruck legen Sie nicht in Ihre Stimme, Sie sprechen ganz neutral, fast monoton – das entspricht Ihrer momentanen Verfassung und auch dem Ziel Ihrer Lesung. DER WOLF UND DIE SIEBEN JUNGEN GEISSLEIN sind aufgeschlagen. Und dann kommen Sie zu der Stelle, wo der Wolf Kreide gefressen hat und nun mit „feiner Stimme“ ruft: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht.“ Hier können Sie nicht neutral bleiben, Sie müssen die Stimme ändern, das verlangt einfach der Text. Also bemühen Sie sich um eine feine und liebliche Stimme, und der kleine Zuhörer oder die kleine Zuhörerin vernimmt es mit Freude.


Am nächsten Abend wird also wieder die gleiche Geschichte verlangt. Sie wissen, was kommt und was erwartet wird, also muss der Wolf schon gleich zu Beginne des Märchens mit rauer Stimme donnern, er sei die Mutter der lieben Kinderschar. Beim zweiten Besuch, wenn er die Kreide gefressen hat, können Sie dann um so effektvoller mit ihrer lieblichsten Stimme flöten. Großer Erfolg! Aber nun muss der Wolf seine Pfote zeigen – und da schiebt sich schon Ihre Hand hinter dem Buch hervor, zu einer bösen Klaue verformt. Nein, den lassen wir nicht herein! Aber wie bekommen wir jetzt Teig und Mehl auf die Pfote? Einfach ein Tempo-Taschentuch herumgewickelt, eine beschwingte Bewegung, und das kleine Geißlein auf Ihrem Schoß kann sich die Täuschung vorstellen und meckert auch nicht, wenn Ihre Hand darunter hervorschaut. Im Gegenteil – das macht die Oberflächlichkeit der Kaschierung nur noch plausibler.


Ein paar Abende und Durchgänge später. Jetzt können Sie die Geschichte schon auswendig erzählen. Das Buch brauchen Sie nur noch für die Fensterbank des Geißenhauses oder die Bäckertheke. Dafür haben Sie die Hände frei, um vielleicht Ziegenhörner oder den drohenden Zeigefinger der Mutter darzustellen. Nun kommt die Geschichte zu dem Punkt, wo der Wolf in die Stube eindringt. Da springt Ihr kleiner Zuhörer oder Ihre Zuhörerin auf und verschwindet im Kleiderschrank – mit den Worten: „Das ist jetzt der Uhrenkasten!“ Als ob Sie das nicht auch so kapiert hätten. Wie soll es jetzt weitergehen? „Aber der Wolf fand sie alle und machte nicht langes Federlesen“, heißt es im Text. Doch Sie merken: So geht es nicht. Wem sollen Sie das sagen? Sie sehen Ihr Gegenüber ja gar nicht mehr – und spüren instinktiv: Erzählen ist nur im Blickkontakt möglich. Weil Sie aber die Geschichte kennen, geben Sie jetzt Ihr Bestes, toben wölfisch durchs Zimmer und rufen: „Ah, hier, unter dem Tisch – happs! Im Bett, das nächste –happs! Im Ofen – schnapp, hmm!“ Und so weiter, mit lautem Schmatzen vielleicht, und dann: „Ah, war das lecker! Aber gab es hier nicht sieben Geißlein? Fehlt vielleicht noch eines? Egal, dann hab ich mich verzählt. Satt bin ich auf jeden Fall! Und müde.“ Natürlich können Sie jetzt nicht raus gehen auf die Wiese und schlafen. Auch deswegen nicht, weil jetzt die Stimme aus dem Schrank ruft: “Du bist jetzt die Mutter, die nach Hause kommt!“ Gut, also die Mutter. Wieder müssen Sie die wörtliche Rede wählen: „Ja, wie sieht es denn hier aus? Die Tür steht offen, sperrangelweit! Und wer hat die Möbel umgeworfen, den Tisch, die Stühle die Bänke? Die schöne Waschschüssel liegt in Scherben! Und wo sind meine Kinder?“ Sie suchen einWeilchen, dann kommt die erlösende Stimme aus dem Schrank: “Liebe Mutter, ich stecke im Uhrenkasten!“ Die Wiedersehensfreude ist groß – und kurz, denn Sie werden wieder in die Wolfsrolle verwiesen, bekommen Kissen als Wackersteine unter den Pullover gesteckt, schnarchen effektvoll und rollen sich dann vorsichtig in die (leere) Badewanne ab. „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot!!“, und dann ist es wirklich Zeit, ins Bett zu gehen.


* Warum diese ganze Geschichte? Weil sich darin – so hoffe ich – einiges Essentielle über Vorlesen, Erzählen, Erzähltheater und Theater findet. Zunächst: Erzähltheater ist eine nahe liegende Form, es stellt sich fast von alleine ein. Die Übergänge vom Textvortrag, vom Vorlesen zum Erzählen und weiter zum Spielen sind oft fließend. Allerdings: Ist man einmal beim darstellenden Spiel angekommen, ist es manchmal schwierig, zum Erzählen zurück zu gelangen. Es sei denn, man betrachtet die Regieanweisungen, die Stimme aus dem Schrank, als Fortsetzung des Erzähltexts. Was sich durchaus anbietet.

Als Ausgangspunkt habe ich ein „Vorlesen mit monotoner Stimme“ gewählt, als Null- Linie sozusagen. Wie expressiv der Vortrag dann wird, hängt u.a. vom Temperament des Sprechenden ab. Auf keinen Fall würde ich sagen, dass ein expressiver Vortrag grundsätzlich der bessere ist; auch der Schritt ins Erzähltheater führt nicht zwingend zur besseren und eindringlicheren Präsentation. Auf den „WOLF UND DIE SIEBEN GEISSLEIN“ bin ich allerdings deshalb gekommen, weil hier die Veränderung der Stimme, also das Verlassen der Neutralität im Vortrag vom Text selbst vorgeschrieben wird.


Üblicherweise hat man das Menschen- und Rollentheater im Blick, wenn man eine Annäherung an das Erzähltheater versucht. Dabei wäre das Figuren- und Puppentheater eigentlich genauso naheliegend. Dafür soll hier das Spiel mit Hand und Wolfspfote und mit dem Buch als Fensterbank stehen. Im Puppentheater kennt man die offene Spielweise und den Verzicht auf versteckte Animation einer Figur. Offenes Spiel ist auch ein Wesensmerkmal des Erzähltheaters. Der Erzähler bleibt erkennbar, auch wenn er vorübergehend in eine Rolle schlüpft, auch wenn er einen Gegenstand oder ein Körperteil zur Darstellung des Erzählten verwendet. Die Hand ist immer noch mit dem Körper des Erzählers verbunden, und es stört nicht, wenn das Taschentuch verrutscht und darunter die Wolfspfote erkennbar wird. „Das ist der Daumen – der schüttelt die Pflaumen ...“ ist die Elementarform eines Erzähltheaterstücks!


Lässt sich das vom Schoß auf die Bühne übertragen? Durchaus. Beim erzählenden Theater mit Fingern oder mit Gegenständen ist das hoffentlich ohne Weiteres vorstellbar. Werden die Handlungen von Menschen verkörpert, dann kann es z.B. einen außenstehenden Erzähler geben, quasi die Stimme aus dem Schrank, die für die Scharniere zwischen den dargestellten Handlungselementen sorgt. Ein Solist wird sich vielleicht in die wörtliche Rede und die körperliche Darstellung hineinfallen lassen – und muss dann immer wieder einen Weg finden, zum narrativen Gestus zurückzukehren. Das wird umso leichter, je mehr er auf erkennbar provisorische Gegenstände – Kissen unter dem Pullover – zurückgreift. Jeder Zuschauer sieht, dass es nur Kissen sind, und hat es doch vielleicht für einen Augenblick genussvoll vergessen. Offene Spielweise, wie gesagt.


Ist Erzähltheater aber nun die bessere, ja: die ideale Theaterform für Kinder? Nein, nicht zwangsläufig. Die offene Spielweise neigt vielmehr zu ironischen Brechungen, wo doch manchmal Identifikation und auch Illusion angebrachter wären. Wollen Kinder wirklich immer, dass die Masken gelüftet oder die Mechaniken einer Puppe erklärt werden? Oder ist da nicht auch der starke Wunsch, verzaubert und entrückt zu werden, und das für die Dauer einer ganzen Vorstellung? Erzähltheater kann das durchaus leisten, aber das ist schon eine Herausforderung! Rudolf Herfurtner hat Erzähltheater einmal als ‚Schwundstufe des Kindertheaters’ bezeichnet und ganz gegen den Zeitgeist die Stimme für das große Ausstattungstheater erhoben. Das gibt zu denken. Wie weit spielt hier die Ökonomie in die Ästhetik hinein, in die Hinwendung zu einem Theater, das mit einem Minimum an Kostüm, Requisiten und Bühnenbild auskommt? Oder gibt es zur Zeit ein grundsätzliches Unbehagen an der Rolle (und der durchgehaltenen Identifikation) oder an der Autonomie einer verdeckt geführten Puppe? Was nährt eigentlich den Wunsch, als Erzähler, also im Grunde privat und persönlich vor ein Publikum zu treten?


Das Private, und das ist meine letzte Anmerkung, ist tatsächlich ein Wesensmerkmal des Erzähltheaters: „Ich habe (wir haben) euch etwas mitzuteilen.“ Ob ausdrücklich so formuliert oder nur in einer Haltung manifestiert – dieser Satz schwingt immer mit. Das persönliche ICH, das konkrete Gegenüber, das IHR, das Anliegen und die Mitteilung, die Kommunion, alles liegt in diesem Satz.

Das mag manchmal an Grenzen stoßen. Kommt man mit dieser Haltung auch noch bis in die 10.Reihe? Was für den einzelnen Zuhörer auf dem Schoß richtig ist, kann für ein großes und zahlendes Publikum durchaus problematisch sein. Einerseits. Es kann aber auch gelingen, andererseits. Und dann wird sich der Zuhörer auch auf einem entfernten Platz zum Mitspiel anstecken lassen und vielleicht fühlen, als stecke er selbst im Schrank. Oder eben im Uhrenkasten.


Erschienen in Spiel&Bühne 4/2008 (Fach- und Verbandszeitschrift Bund Deutscher Amateurtheater e.V. )


Jörg Baesecke, Pullach, 2008

Kontakt: info(rollmops)theater-rebus.de

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Anmerkungen zum Erzähltheater


von Jörg Baesecke